11.06.2020
Übrigens ...

Anstandsregeln

Die Pfarrerin der Berliner Gedächtniskirche hat die Regeln für den Gottesdienst veröffentlicht. Sie schreibt: „Es gelten die Anstandsregeln.“ Nein, es handelt sich nicht um einen Tippfehler Ihres Wochenkuriers, sondern das Korrekturprogramm hatte aus „Abstand“ einfach „Anstand“ gemacht. Darüber kann man schmunzeln. Ich dachte: Das ist gar nicht verkehrt. Vielleicht brauchen wir eher Anstands- als Abstandsregeln. Auf der evangelischen Grundschule, die mein Vater in den 60er Jahren besuchte, galt ein striktes Gewaltverbot. Also haben sich die Schüler nach der Schule im Park getroffen, um ihre Konflikte auszutragen. Dabei galt ganz selbstverständlich: Wenn einer aufgibt und abklopft, ist sofort Ende. Auch ohne Aufsichtsperson. Klar war auch: Der Verlierer geht anstandslos in die nächste Bäckerei und kauft für alle Rumkugeln. Heute wird eher nachgetreten, wenn einer schon am Boden liegt. Ich bin schockiert, wenn ich lese, dass einer Kassiererin ins Gesicht gespuckt wird, weil sie einer Person die zweite Packung Klopapier verweigerte. Dass ein Mann verprügelt wird, weil er ein Pärchen darauf hinweist, im Supermarkt doch bitte eine Maske zu tragen. Dass ein Mann ums Leben kommt, der fleht: „Bitte, ich bekomme keine Luft mehr.“ „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ Egal, wie Sie es nennen: Besonnenheit, Anstand, Respekt oder Fairness. Ich wünsche mir mehr davon.

Alina Erdem, Pfarrerin im Kirchenkreis Niederlausitz